Was versteht man unter „verschenkten Augen“?

Die eigenen Augen verschenken? Wer kommt schon auf eine solche Idee? Aber uns selbst mit den Augen anderer zu betrachten und zu bewerten, halten wir für ein alltägliches, normales Phänomen. Im übertragenen Sinne verschenken wir offenbar unsere Augen gern.

Was passiert in einem solchen Moment, in dem wir uns betrachten, als seien wir die anderen? NLP-Anwender beschreiben diesen Vorgang als ein Einnehmen der sogenannten 2. Position, der Du-Position. In einem Akt der Empathie versetzen wir uns in die anderen hinein und vollziehen ihre Sicht auf uns nach. Das kann sehr hilfreich sein, wenn wir durch die gewonnene Information unser Selbstbild ergänzen und umfassender gestalten.

Aber wenn wir unsere Augen in einem Akt der Empathie tatsächlich „verschenken“, verlieren wir unsere eigene Perspektive. Wir sehen uns dann lediglich aus der Weltsicht der anderen. Empathie wird so zu einer Falle, in der wir unsere Einzigartigkeit verlieren. Hinzu kommt, dass „verschenkte Augen“ sich nicht immer mit einem echten Akt der Empathie verbinden. Oft projizieren wir unsere negativen Sichtweisen über uns selbst lediglich auf andere und verleihen unserem Urteil dadurch eine höhere Glaubwürdigkeit.

Was tun, wenn wir mit „verschenkten Augen“ durch Situationen gehen? Der wichtigste Schritt ist bereits getan, wenn wir erkennen, dass ein Urteil über uns auf diesem Phänomen beruht: „Die Kollegen mögen es bestimmt nicht, wenn ich an diesem Meeting nicht teilnehme“. „Meine Freunde finden es wahrscheinlich fürchterlich, wenn ich bei der Flussfahrt nicht mitmache“. Warum nicht freundlich nachfragen, wenn wir uns nicht sicher sind, was andere über ein bestimmtes Verhalten denken? Warum nicht beim eigenen Standpunkt bleiben oder auch mal kurz erläutern, worin die eigene Motivation besteht?

Doch genau diese kommunikativen Akte unterlassen wir oft. Und da liegt das eigentliche Problem: „Verschenkte Augen“ spiegeln die positive Absicht, für uns schwierigen Kommunikationen aus dem Weg zu gehen. Diese Vorannahme beruht zumeist weniger auf der Art, wie sich die uns umgebenden Menschen verhalten. Vielmehr erinnern wir unbewusst frühe Prägungserfahrungen, in denen Erwachsene uns unseren eigenen Blick auf die Welt streitig gemacht haben. „Verschenkte Augen“ waren in dieser Zeit der Abhängigkeit eine Lösung, um leichter durch den Alltag zu gehen.

Doch die Zeit der Abhängigkeit ist vorbei. Wir dürfen als Erwachsene mit den eigenen Augen nicht nur die Welt, sondern auch unser eigenes Selbst wahrnehmen und vertreten. Die Sichtweisen anderer sind lediglich dafür da, unser eigenes Bild zu bereichern und wechselseitiges Verständnis zu entwickeln. Gute Kommunikation ermöglicht es uns, selbstbestimmt und zugleich gemeinsam zu leben.